von Christian Müller
Du bist, was Du isst. Aber du bist noch mehr, was du nicht bietest. Kraus? Nein, nicht wirklich. Es liegt in der Natur des Menschen nur das sehen zu wollen, was am Einfachsten zu begreifen ist. Ein Mensch ist obdachlos. Er ist ein Penner. Er hat bitte auch ein Problem mit Alkohol zu haben. Er hat einfach eine gescheiterte Existenz zu sein. Ja, irgendwo ist er das ja auch. Doch – wen interessiert schon der Weg dorthin? Niemand wird auf die Idee kommen, einfach mal so drüber nachzudenken, was wohl hat passiert sein können.
In meiner Schulstadt, als ich noch Gymnasiast war, gab es einen älteren Herrn den alle nur den „Professor“ nannten weil er gern über klassische Musik sprach. Aber er war Obdachlos. Gescheitert. Man sah nur die obligatorische Rotweinflasche und den lustigen Hut mit der Plastikblume. Ich wär im Leben nicht auf die Idee gekommen dass er wirklich ein Professor für Musikgeschichte war. Er war es aber. Und eines Tages erfuhr ich über ihn: Er hat den plötzlichen Tod seiner Frau nicht verwinden können mit der er einige Jahrzehnte glücklich verheiratet war. Es hat ihn aus der Bahn geworfen. Mir würde das nie passieren. Da war ich mir sicher.
Bundeswehr, meine erste eigene Firma, der gewaltsame Tod meines Lebenspartners. Fernverkehr, stellvertretender Niederlassungsleiter, Vertriebsleiter, zweite Selbständigkeit. Das war mein Weg. Bis zu jenem Tag. Bis zu jenen zwei Telefongesprächen: Meine wichtigsten Kunden teilten mir mit, sie müßten Insolvenz anmelden. Die Finanzkrise habe bei ihnen zugeschlagen. An dem Tag zerbröselten einige zehntausend Euro erwarteter Gewinn binnen weniger Stunden vor meinen Augen. Geld welches fehlte um meine Mitarbeiter entlohnen zu können. Für sie liquidierte ich alles. Mein Weg war dann vorgezeichnet: Kein Geld für Miete, monatelanger Kampf, Resignation, Obdachlos. In einer Stadt, in der ich mich nicht wohlfühlte. Ein dreiviertel Jahr „auf Platte“ gelebt. Freunde? Sicher. Klar. Man ist ja auch so außerordentlich erfolgreich. Danke an die beiden Tankstellen. Dort durfte ich mich waschen. Und auch mal duschen.
Dann der Weg nach Hannover. Warum? Ich bin Niedersachse. Bin in diesem Bundesland geboren. Ein Landei. Hier schlägt der Takt des Lebens, so hoffte ich, ein wenig langsamer, nicht gar so hart. Wohin? Was lag näher als nach dem Aussteigen aus dem Zug den Weg zur Bahnhofsmission zu nehmen, freundlich vorgestellt, Fragen gestellt. Einen Becher Kaffee später fand ich mich in der Tram Richtung Büttnerstraße, dort im Werkheim wäre wohl ein Plätzchen frei für mich, sagte man mir. Und ja, dort war ein Bett frei. Und noch viel mehr: Es gab ein warmes Bett! In einem eigenen Zimmer! Es gab keine Sorge mehr um die Antwort auf die Frage „was esse ich morgen?“: Es gab Essen, es war einfach so da. Und es gab noch mehr: Menschen. Denen man erst unter Vorbehalt, dann immer selbstverständlicher das Herz öffnen konnte. Die zuhörten. Die beruhigten. Die – halfen. Die halfen, nach einem harten Weg in die Obdachlosigkeit den noch viel härteren Weg heraus finden und gehen zu können. Die Selbstsicherheit zurückgaben. Die ersten Schritte auf diesem Weg – belohnt durch einen Herzinfarkt, Operationen. Das wenig Kaffee am Tag, die paar Liter, die zwei Schachteln Zigaretten, hey, echt, so bös konnte das doch nicht sein? Doch. Dazu der Raubbau am eigenen Körper durch viel zu lange viel zu wenig Schlaf und viel zu viel Streß, unmittelbar gefolgt von plötzlich einsetzender Ruhe. Es war zu viel, der Körper rebellierte, zeigte mir den „goldenen Finger“.
Danach dann endlich der Neubeginn, der Neustart für den Weg heraus. Da muß doch was möglich sein, in einer Stadt wie Hannover?! Komm schon. Da geht doch was?!? Nein. Da ging nicht wirklich viel. Sozialer Wohnungsbau? Seit Jahren ein auch in Hannover erfolgreich vergessener Begriff. Knappe Kassen im Säckel, andere, viel wichtigere Dinge die finanziert werden wollen. Wird schon irgendwie gut gehen. Und solang noch keine Studenten unter den Brücken am Mittellandkanal hausen kann es so schlimm dann ja auch wieder nicht sein. Schnell stellt man also auf dem Weg fest: Es gibt Wohnungen. Aber... Und natürlich bekommt man auch einen Wohnberechtigungsschein. Aber...
Ja, manchmal bezichtigte ich mich selbst als undankbar. Weil ich Ansprüche hatte. An mich. An mein Leben. Ich wollte wieder eine Wohnung, mensch ich bin doch nicht blöd, trinke keinen Alkohol, nie was mit Drogen am Hut und seit dem Infarkt auch noch Nichtraucher, man warum geht da nichts? Nun, das Amt darf mir nicht helfen, ich bin nicht in Hannover Obdachlos geworden. Selbstgegebene Regelung von irgendwann, im Grund überholt aber... Die Wohnbaugesellschaften? „Woher kommen Sie? Ach? Ah, danke, Sie hören dann von uns.“ Das 'nicht' wurde wohl sehr leise nur ausgesprochen. Als Lediger konkurriert man mit Vielen in der Stadt. Studenten. Asylsuchenden. Flüchtlingen. Alle haben sie ein berechtigtes Interesse an einer Wohnung. An einer Wohnung, die nicht zu groß und nicht zu teuer sein darf. Von denen es weit weniger auch „auf dem freien Markt“ gibt, hier in Hannover wie in jeder anderen Stadt auch, als dringend benötigt würde. Bleiben noch die privaten Vermieter. Ja bitte, selbstverständlich haben Vermieter ein fundamentales Interesse daran, „ordentliche“ Mieter zu bekommen, die verläßlich die Miete zahlen, also irgendwie über ein geregeltes Einkommen verfügen. Als Bewohner einer Obdachloseneinrichtung ein „ordentlicher“ Mieter? Für sie undenkbar. Man sieht nur das, was offensichtlich ist. Scheint.
Mir half dann, nach immer quälenderen Monaten, der Zufall. Eine Initiative wurde ins Leben gerufen. Ein „Test“ wohl, ob das auch gut ginge. Und ich hatte Glück daß die Menschen, die mir bis dahin so halfen, mich dann für eine solche Wohnung vorschlugen. Ein Vorstellungsgespräch wurde vereinbart. Mit gemischten Gefühlen ging ich hin, „was erwartet mich da, wie sind die?“ war das Haupthemmnis in meinen Gedanken. Die beiden Damen von der GBH waren nett. Sehr nett. Sie erleichterten mir, offen über mein Leben zu berichten. Über die Gründe meiner Obdachlosigkeit. Und ja, auch über die Fehler die ich selbst machte und die definitiv mit zu den Gründen gehörten. Ich merkte aber schnell daß meine Gesprächspartnerinnen ihre Bedenken mehr und mehr ablegten, vielleicht auch das eine oder andere Vorurteil über Obdachlose. Wenn sie sie denn überhaupt hatten, manchmal redet man sich ja auch die verrücktesten Dinge nur zu gern ein. Die Verabschiedung war herzlich, das Feedback war schon da positiv. Die Wochen danach waren dennoch qualvoll. „Was wenn nicht...?“ Wie gesagt, manchmal redet man sich selbst ziemlichen Unsinn ein.
Und dann kam die erlösende Nachricht: „Wenn Sie möchten können Sie die Wohnung in..... anmieten.“ Möchte ich? Ha, und wie! Was dann folgte war wie ein Schnellzug, der über mich hinwegdonnerte: Mietangebot beim Amt vorlegen, genehmigen lassen, Mietvertrag unterschreiben, Anträge hier und dort, dann doch fast noch etwas vergessen, die wenigen Tage bis zum Mietbeginn, es waren genau dreizehn, danke liebes Tagebuch, bis zum Bersten angefüllt mit tausenden Dingen, die erledigt werden wollten. Und endlich war er da, der Tag: Übergabe der Wohnung. Danach das erste Mal ganz bewußt mit dem Schlüssel die Haustür geöffnet. Die Wohnungstür aufgeschlossen. Gut, die Wohnung war leer. Viel hatte man so ja nicht. Aber das Gefühl! Wie der König der Welt. Ja gut, der König der Stadt. Okay, okay, aber immerhin der König der Wohnung. Und dieses unglaublich gut tuende Gefühl habe ich Menschen zu verdanken, die hinter die Fassade schauten. Die den Mut hatten sich einzulassen. Die mehr sahen als einen Obdachlosen. Menschen die den Mut hatten, den Menschen zu sehen. Ich wünschte, solche Menschen gäbe es mehr. In Hannover. In Niedersachsen. In Deutschland. Und mit „meinen“ Menschen stehe ich heut noch wöchentlich in Kontakt. Weil ich es möchte. Und darf. Einfach nur so zum Austausch von Informationen, Gedanken. Die Qualität der Gespräche, sie hat sich deutlich geändert im Laufe der Jahre, nicht erst seit ich diese schöne Wohnung habe. Und doch weiß ich, zur Not finde ich dort auch weiterhin Rat und Hilfe. Ausruhen? Ja nee, hopp, nix gibt’s: Der nächste Weg möchte ebenfalls gegangen werden. Der Weg heraus aus Hartz IV. Der noch steiniger sein wird. Noch weniger gangbar. Denn es ist nicht nur der Herzinfarkt. Es ist nicht nur der Lebenslauf. Es ist nicht nur die überwundene Obdachlosigkeit. Der größte Stein ist das Alter. Mit Anfang Fünfzig dürfte es schwer werden eine Arbeit zu finden, die körperlich nicht zu anstrengend ist. Und vor allem wieder Menschen zu finden, die den Mut haben, mutig zu sein.
Als ich gefragt wurde, ein „paar“ Zeilen über meinen Weg zu schreiben, sagte ich schnell zu. Und suchte dann einen Einstieg. Dann fiel mir „Der Professor“ aus meiner Jugend wieder ein. Und beim Nachdenken darüber ging mir auf: Ich bin drei Menschen in einem: Der Naserümpfer, der auf den Professor zeigte. Der Neugierige, der mit ihm sprach. Und, abgesehen von der Ausbildung, sogar ein Stückchen der Professor selbst. Und ich frage mich ehrlich, ob ich den Mut hätte, so mutig zu sein wie die Menschen, die mir halfen.